Kommentar: Verfrühte Normalisierung
NRW überlegt, die Kitas wieder zu öffnen, in Sachsen-Anhalt können sich wieder fünf Personen treffen und auch in Hamburg öffnet man schrittweise die Schulen. Immer mehr Stimmen werden laut, man müsse zur Normalität zurückkommen. Und das klingt auch einleuchtend: Seit mehr als zwei Monaten gibt es in jedem Bundesland Maßnahmen gegen die Ausbreitung, wirtschaftliche Folgen sind nicht auszudenken und selbst den größten Verfechtern des Social Distancing geht langsam die Puste aus. Und Deutschland ist ja verhältnismäßig gut davongekommen, die Zahl der Neuinfektionen sinkt täglich. Aber genau das könnte ein Problem werden. Virologe Christian Drosten warnt vor dem „Präventions-Paradoxon“. Deutschland hat gut Vorsorge getroffen und von dem Virus selbst ist im Alltag nicht viel zu sehen. Deshalb denken viele, die Maßnahmen sollten gelockert werden oder wären übertrieben. Aber man spürt im Alltag eben nichts, weil wir gut vorgesorgt haben. Ganz anders ist es in Spanien: das Land hat es hart getroffen und nach sieben Wochen sehr strikter Ausgangsbeschränkung gibt es nun langsame Lockerungen. Zu bestimmten Uhrzeiten dürfen bestimmte Altersgruppen draußen beispielsweise Sport treiben. Doch hier hat jede*r die Konsequenzen gespürt und nur wenige wehren sich gegen die Maßnahmen. Eine zweite Welle kann bei einer verfrühten und zu starken Lockerung trotzdem kommen. Aber viele Existenzen hängen davon ab, dass die Maßnahmen gelockert werden. Und so werden aus allen Berufsgruppen langsam Stimmen laut, die fordern, dass sie wieder arbeiten sollen. Aber dies kann man nicht einfach so gewährleisten, gerade Tätigkeiten, bei denen viele Menschen zusammenkommen, können in so einer Zeit nicht nachgegangen werden. Und die Wirtschaft wird natürlich einen Schaden davontragen, aber für Berufe, die eine zweite Welle provozieren könnten, muss man sich etwa anderes ausdenken, als alles wieder zu normalisieren. Oder muss es erst schiefgehen, bis die Leute ruhig sind? Schließen die Schulen erst wieder, wenn jemand stirbt? Man darf nicht vergessen: Es geht hier nicht um Zahlen, sondern um Menschenleben.