Offener Brief des Abijahrgangs an den Schulsenator

Sehr geehrter Ties Rabe,

als Sie am 25.03. entschieden, dass eine Absage der Abiturprüfungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht notwendig sei und man die Prüfungen am geplanten oder an einem Nachholtermin durchführen könne, schlugen Sie damit jedem Schüler, der gerade für diese Prüfungen lernen muss, vor den Kopf.

In der jetzigen Situation, in der quasi jedes öffentliche Leben nicht stattfindet, ist es von grenzenloser Bedeutung, dass Schüler diese Prüfungen schreiben? Es gibt, egal wie lange man sucht, nicht eine plausible Erklärung für die Durchführung dieser Prüfungen.

Viele Schüler in ganz Hamburg sitzen momentan beim Abendessen und müssen zuhören, wie ihre Eltern die nächsten Wochen voller Pessimismus planen, weil sie gerade nur noch 67% ihres Gehalts kriegen und die Aussicht haben, dass sie ihren Job verlieren, sollte die globale Pandemie nach Ostern nicht auf magische Art und Weise verschwinden. Aber das macht ja nichts, ein/e 17- bis 19-Jährige/r, der/die sich möglicherweise um sowas noch nie im Ansatz Gedanken machen musste, kann sowas ja locker abschütteln und weiter den Aufbau der Zellmembran pauken. Das ist ja momentan auch wichtiger.

Genauso wie diese Jugendlichen ignorieren sollen, dass sie die letzten Wochen Schule nicht erleben können – was ja laut verbitterten Erwachsenen die „schönste Zeit“ des Lebens ist – sondern Zuhause sitzen, wo sie schreiende Geschwister vom Lernen abhalten und sie keinerlei Möglichkeiten haben, einen Ausgleich zu finden oder ihre Freunde zu sehen. Von welchen übrigens manche zum Lernen ziemlich abhängig sind, weil nicht jede/r Schüler/in alleine und im eigenen Zimmer über lange Zeit konzentriert bleiben kann. Weiter kann man natürlich auch erwarten, dass wir, wenn wir am Prüfungstag zusammenstehen mit Freunden, die man mindestens sechs Wochen nicht gesehen hat, schön zwei Meter Abstand halten und uns freundlich zu nicken. Und wenn wir durch sind mit allem, dann wollen wir auch nicht zu den Menschen, mit denen wir die letzten zwei Jahre gelernt, gefeiert und gelitten haben, sondern wir gehen brav nach Hause, stoßen mit der Familie – die bei vielen nur 20% der Oberstufe überhaupt mitbekommen haben – an und schreiben unseren Freunden ein kleines Sektglas-Emoji. Whoop Whoop! Oder wir stoßen über Skype an. Alleine zu Hause trinken. Heute cool, in der Medizin nennt man das Alkoholismus. C2H5OH ist da die Formel, falls Sie das interessiert. Den Gedanken, dass hier alles gut wäre und dass man sich keine Sorgen wegen der Prüfungen machen muss, den verbreitet nur ein Nebensatz in einer Mail von Lehrer XY, während im Hintergrund der Nachrichtensprecher die neuen Infektionszahlen aufzählt. Aber wussten Sie, dass Schiller zum Sturm- und Drang gehört?

Wann genau wir das Wissen brauchen, weiß auch keiner. Aber, ob man nun im April oder an einem Ersatztermin schreibt, was macht das schon aus? Wir lernen hier ja auch fürs Leben und wenn man eine Sache aus den bisherigen Entscheidungen der Hamburger Schulbehörde lernen kann, dann ist es, dass man genaue Entscheidungen so lange vor sich herschieben soll, bis man gezwungen ist zu handeln. Das nimmt man doch gerne für den späteren Job mit. Soweit so schlecht, es gibt ja auch nur eine weit-durchdachte, logische und sinnvolle Alternative. Die Noten der letzten zwei Jahre zu mitteln und in Sonderfällen mit mündlichen Nachprüfungen – unter höchster Vorsicht versteht sich – eine Abi-Note zu ermitteln, das geht ja nicht! Das wäre ja… ja was wäre das? Unfair gegenüber Bundesländern, die sich seit Jahren gegen ein zentrales Bildungssystem wehren? Natürlich.

Wissen Sie wie hilflos man sich fühlt, wenn man die Puppe ist, die an Fäden hängt und keinerlei Macht hat, irgendeine Entscheidung über einen der lebensbestimmendsten Momente zu treffen?

 

Nein, weil Sie, Herr Rabe, Entscheidungen vor sich herschieben und das, ohne die betroffenen Schüler zu fragen.

 

Mit freundlichsten Grüßen,

der S4-Jahrgang des Gymnasium Corveystraße