Corveyaner reist an die ukrainische Grenze

Der Ukraine-Krieg beschäftigt vermutlich uns alle und es kommt immer wieder zu neuen Schlagzeilen. Doch wer von uns kann schon behaupten, selbst vor Ort gewesen zu sein? Dayan Khan aus der 10D kann es. Im Mai diesen Jahres ist er mit der Hilfsorganisation Humanity First an die ukrainische Grenze gefahren. Wie es dazu kam und was seine Erfahrungen waren, erzählt er im Interview mit MyVey.

MyVey: Hallo Dayan, vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen  hast. Erzähl doch unseren Leser*innen erstmal, wer du überhaupt bist. 

Dayan: Ich bin Dayan Khan, ich bin 15 Jahre alt und gehe in die 10D am Corvey. Ich bin politisch engagiert bei der SPD, bin stellvertretender Vorsitzender der Jusos im Kreis Pinneberg und ich bin ehrenamtlich aktiv bei der humanitären Hilfsorganisation Humanity First. 

MyVey: Ich nehme an, dass du dann auch mit Humanity First an die ukrainische Grenze gefahren bist, oder? 

Dayan: Genau. Humanity First ist eine internationale Hilfsorganisation. Sie helfen Menschen weltweit mit Nahrungsmitteln,

 Bekleidung, Unterkünften, medizinische Versorgung und vielem mehr. Zurzeit ist Humanity First sehr viel in Katastrophengebieten aktiv, so auch an der Polnisch-ukrainischen Grenze in Medyka, eine kleine Stadt etwa 85 km von Lwiw entfernt. Alle Mitglieder von Humanity First, vom Vorstand bis hin zum einfachen Mitglied arbeiten zu 100% ehrenamtlich zugunsten der Menschen.

MyVey: Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen, dass du an die ukrainische Grenze gereist bist? 

Dayan: Als der Krieg im Februar ausgebrochen ist, waren glaube ich wir alle schockiert.  Bereits am Anfang des Krieges war Humanity First eine der wenigen Hilfsorganisationen vor Ort an der Grenze. Es kamen täglich mehrere tausend Menschen über die Grenze. Mir war es wichtig, auch vor Ort zu sein. Ich wollte den Menschen helfen. Als ein enger Freund unserer Familie berichtete, dass er mit Humanity First morgen an die ukrainische Grenze reise, wusste ich, dass ich auch mitkommen wollte. So machten wir uns einen Tag später auf den Weg. Ich habe mir dann extra schulfrei genommen. Wir sind zu dritt etwa  19 Stunden lang mit einem Auto und einem Wohnwagen gefahren, über Berlin und  Krakau, bis wir dann in der Nacht schließlich an der polnisch/ukrainischen Grenze waren. Wir haben im Wohnwagen übernachtet und nur wenig geschlafen, weil wir am nächsten Tag das Frühstück für die Menschen vor Ort vorbereitet haben. Es waren viele andere  Helfer*innen von Humanity First, auch aus Großbritannien oder den USA da, mit denen wir uns unterhalten haben und wir haben dann auch verschiedene Aufgaben bekommen. Es gab zum Beispiel einen Kaffeestand, wo warme Getränke und auch Frühstück für die  Menschen bereitgestellt wurden, oder den medizinischen Bereich, wo auch Medikamente oder Rollstühle vor Ort waren.

MyVey: Was würdest du sagen, brauchen die Menschen am dringendsten? 

Dayan: Was die Menschen am allermeisten brauchen, ist das Gespräch. Man geht erstmal hin, fragt wie es ihnen geht und dann erzählen sie schon viel von sich selbst aus, viele  weinen auch und erzählen, wie lange sie schon unterwegs sind, wie sie ihr Haus verloren  haben, auch gibt viele jetzt allein erziehende Frauen, deren Männer jetzt im Krieg sind. 

MyVey: Du hast gesagt, das Gespräch ist sehr wichtig. Da würde mich interessieren, wie  das überhaupt mit der Kommunikation und der Sprachbarriere ablief. 

Dayan:  Untereinander haben wir uns immer auf Englisch unterhalten, doch das konnten die meisten Ukrainer*innen nicht. Die Schilder, die wir aufgehängt hatten, waren natürlich auf  ukrainisch und polnisch übersetzt, ansonsten hat man viel über den Google Übersetzter und auch Handzeichen kommuniziert.

MyVey: Und wie reagiert man darauf, wenn jemand dir jemand solche bewegenden  Geschichten erzählt? 

Dayan: Ich habe vieles vor Ort erlebt, wozu ich auch gleich nochmal kommen werde. Ich  habe selber eine Rakete gesehen. Als die Menschen kamen, haben wir ihnen erstmal etwas zu Essen oder zu Trinken  angeboten, ihnen ihr Gepäck abgenommen und natürlich gesagt, dass sie sich erstmal ausruhen und hinsetzen können. Auch wenn wir kein ukrainisch konnten, haben wir unser Bestes versucht, um den Menschen zu helfen.

MyVey: Du hast selbst eine Rakete gesehen? 

Dayan: Ja leider, wir waren dabei eine Medizin-Lieferung, ein paar Kilometer vor der ukrainischen Grenze abzuholen. Wir waren ungefähr 10 Kilometer von Medyka entfernt, als wir – ich und drei andere  Personen – aus dem Auto heraus eine Rakete am Himmel gesehen haben. Zuerst hat ein Kollege gesagt: „Da fliegt etwas“. Wir haben dann das Auto angehalten und geguckt.  Wir haben es auch gehört und gesehen. Es war ein oranges Licht und ungefähr so schnell wie ein Flugzeug. Dann sind wir weitergefahren und kurze Zeit später haben wir gesehen, wie es in einiger Entfernung einschlägt. Wir sind schon ausgestiegen und dachten, es kommt eine Druckwelle, aber Gott sei dank war es nicht so eine große Rakete. Auf jeden  Fall haben wir aber Feuer gerochen, es roch wie Chinaböller an Silvester. Ich weiß, dass  ich die ganze Zeit gezittert habe, wir haben mit Leuten auf der anderen Seite geschrieben, ob sie es auch gesehen hätten und ob jetzt noch eine käme. Nach etwa einer halben  Stunde sind wir dann zurück ins Camp nach Medyka gefahren, wo auch alle anderen Helfer die Rakete gesehen haben. Einen Tag später haben wir auch im NDR gesehen, dass eine Rakete in der Nähe  von Lviv eingetroffen war – die nächste größere Stadt in der Ukraine. Einerseits waren wir sehr schockiert, aber andererseits auch glücklich, dass die Rakete uns nicht getroffen hat. Am nächsten Tag kamen viel mehr Menschen über die Grenze. Eine ukrainische Studentin bestätigte uns, dass Sie auch eine Rakete in der nähe gestern gesehen habe. Sie konnte mir auch ein Foto der Rakete, die auf dem Boden lag, zeigen. Ich habe sie gefragt, wohin Sie nun gehen wolle, und sie meinte, sie ginge erstmal nach Polen und wenn sich die Lage beruhigt habe, wolle sie wieder zurück in die Ukraine.

MyVey: Wie bist du damit umgegangen und wie haben deine Eltern und deine  Klassenkamerad*innen darauf reagiert? 

Dayan:  Ich habe natürlich mit meiner Familie jeden Tag telefoniert. Da wir mit dem Vorstand gut befreundet waren, gab es unter uns allen ein gutes Vertrauen. Als ich zurückkam, war meine Mutter noch in Kanada, aber mein Vater war da, dem habe ich dann von der Rakete und weiteren Ereignissen erzählen konnte. Er war natürlich  schockiert, aber er war auch stolz auf

mich, dass ich so viel helfen konnte. Da Polen ja auch in der NATO ist, waren wir vermutlich nie wirklich in Gefahr.

Ich bin an einem Donnerstag um 3 Uhr morgens zurück nach Hamburg gekommen und so hatte ich nur drei Stunden Schlaf, weil ich am nächsten Tag in die Schule musste. Meine Klassenkamerad*innen waren beeindruckt und stolz, aber auch verängstigt. Viele haben  gesagt: „Meine Eltern hätten mir das nie erlaubt“ oder „Ich würde mir das niemals trauen, dahin zu fahren“, aber am Ende waren wir alle glücklich, dass jemand vor Ort war und helfen konnte. 

MyVey: Und nochmal zu den Flüchtlingen: Was passierte mit denen, nachdem sie bei  euch im Camp waren? 

Dayan: Unser Camp am Grenzübergang war nur für Essen, Trinken und medizinische  Hilfe, aber nicht zum Übernachten. An der anderen Seite des Camps stehen auch Busse  und es gibt einen kleinen Bahnhof im Dorf, von da aus fahren die Leute dann meistens in  die nächste Großstadt, meistens wollten die Leute einfach so schnell wie möglich weg.  Einige Leute sind aber auch wieder zurückgefahren in die Ukraine.

MyVey: Wieso sind die Menschen zurück in die Ukraine gegangen?

Dayan:  Was man halt verstehen muss, ist, dass das ihre Heimat ist. Sie haben da Freunde, Familie, ein Haus, sie haben studiert  oder gearbeitet. In Lwiw, im Westen der Ukraine waren ja ohnehin eher weniger Angriffe,  deswegen sind viele Ukraininer*innen auch wieder zurückgegangen. 

MyVey: Was ist die bewegendste Geschichte für dich gewesen, die du von den Menschen  aufgeschnappt hast? 

Dayan: Es waren viele Geschichten, da muss ich überlegen. Am bewegendsten war für  mich eine Dame mit drei Kindern – vier oder fünf Jahre alt – die im Camp gespielt haben  und um mich herum gerannt sind. Für mich war das ein trauriger Moment, weil sie ihre  Heimat verlassen mussten, kein Zuhause mehr haben und auch nicht wissen wo ihr Vater  ist, weil der ja zum Militär musste. Die Mutter war psychisch und physisch auch komplett  am Ende, sie hatte drei K

offer in der Hand und wollte nur noch weiter. 

MyVey: Kannst du dir vorstellen, nochmal an die Grenze zu fahren oder so etwas vielleicht sogar als Beruf zu machen? 

Dayan: Wenn sich die Lage weiter verschlechtert, ja. Wir  hoffen aber natürlich alle, dass sich die Situation verbessert und das Camp so schnell wie möglich nicht mehr benötigt wird. 

MyVey: Gibt es sonst noch etwas, was du gerne loswerden würdest?

Dayan: Was mir wichtig ist, ist, dass ich nicht da geholfen habe, weil der Krieg in Europa ist oder ich die Ukraine besonders mag. Ich bin gläubiger Muslim und habe eine Pflicht den Menschen zu helfen. Da wo Not ist, muss ich helfen, egal ob es nun die Ukraine ist oder Afghanistan oder sonst wo. Ich würde auch dort helfen, wenn ich die Möglichkeit bekommen würde. Es gibt leider im Moment sehr viele Menschen, die meinen, Flüchtlinge aus Afghanistan oder Syrien seien etwas anderes und ukrainische Flüchtlinge sollen priorisiert werden. Ich finde, wir sind alle gleich, wir sind alle Menschen und alle Menschen sollten alle gleich behandelt werden.

MyVey: Wenn es sonst nichts mehr gibt, bedanke ich mich für deine Zeit und für deinen  Mut, so offen darüber zu reden. 

Dayan: Vielen Dank, dass ich hier sein konnte.